Max Mustermann beschäftigt sich mit unserer Identität und legt Absurditäten des Konzepts offen. Identität im einfachsten Sinne heißt, einen festen Punkt in der Welt zu besetzen. Ich bin der, der da ist, wo ich bin. Mein Leben verbindet diese Punkte zu Linien, zu einem Lebensweg. Wenn wir einen Sinn in unserem Leben suchen, interpretieren wir die Richtungen und Richtungswechseln dieser Linie. Wie ich wurde was ich bin, die alte Frage der Autobiographie, ist die semantische Interpretation der Vektoren unseres Lebensweges.
Diese Frage nach dem Sinn des Weges weicht jedoch mehr und mehr Fragen nach der Länge, Steigung und Geschwindigkeit: Quantifizierungen. Damit wechseln wir die Kultur – von einer geisteswissenschaftlichen Kultur, der es um die Formulierung von Sinn in Form von Sätzen und Bildern geht, hin zu einer naturwissenschaftlichen oder ökonomischen Kultur, der es um die Feststellung und den Vergleich von Zahlen geht. Wir produzieren keinen Sinn mehr, sondern Unsinn, sagte Dilthey.
Aber ist die Sinnsuche nicht genauso unsinnig? Immerhin sucht sie einen Sinn in den Strecken und Vektoren, die im Grunde nur numerische Größen sind. Max Mustermann hat große Freude darin, diese Produktion von Unsinn in alle ihren Spielarten vorzuführen, etwa dann, wenn er die über sich gesammelten Daten wieder in Bilder übersetzt, die uns zur Interpretation herausfordern und d.h. dazu, Unsinn in Sinn zu verwandeln.
Zwei weitere Facetten des Spiels mit den Identitäten sind das Rollenspiel und die Überwachung. Dass Rollenspiele etwas mit Identität zu tun haben, versteht sich von selbst, denn wenn wir eine Rolle spiele, nehmen wir die Identität von jemand anders an, seinen platz in der Welt. Max Mustermann treibt das so weit, dass er sich sogar Reisepässe und Führerscheine für diese Identitäten ausstellen liess. Die Arbeit provozieren damit bei ihren Betrachter*innen die Vorstellung, wie es wäre, wenn auch sein eine andere Identität annähmen und ein anderes Leben bzw. das Leben eines anderen führten und machen damit nicht nur auf die Zufälligkeit unserer Identitäten aufmerksam (Ich könnte genauso gut ein anderer, eine andere sein), sondern auf die Absurdität unseres Beharrens darauf. (Ich bin genau der und stehe genau da).
Mit diesem Standpunktwechsel ist zugleich ein sozialer Gedanke verbunden. Er ist nämlich die Voraussetzung für Empathie, Mitgefühl und das Erwa- chen der Moral. Wenn ich mich als andere*n sehen kann, kann mir der/ die andere kein niemand sein, egal wie wichtig ich mich selbst nehme. Die Überwachung rückt die Frage nach der Identität in eine größere Perspektive.
Bin ich wirklich der, der ich glaube zu sein? Um uns zu vergewissern, dass wir nicht in einer Truman Show sitzen, gleichen wir unsere Selbst-Beschreibungen mit den Fremd-Beschreibungen ab du streben – ähnlich wie im Hinblick auf die Wirklichkeit auch, die geteiltes System der Erfahrungen ist – nach Übereinstimmung.
Das öffnet die Frage nach unserer Identität der Überwachung.
Was hast du wirklich zu dem und dem Zeitpunkt an dem Ort gemacht? Wer bist du wirklich? Max Mustermann beleuchtet diese Fragen am Beispiel der Stasi und der geteilten Selbstüberwachung durch das Internet 2.0 heute. Dabei zeigt unterschiede und Parallelen zwischen dem Überwachungs-Stalinismus in der DDR und dem Überwachungs-Kapitalismus (Shoshana Zuboff) von heute. Zugleich sind damit wiederum Fragen der eigenen Identität verbunden, denn die Familie von Max Mustermann wurde auch nach der Flucht in die BRD noch von der Stasi überwacht. Der Fluchtpunkt dieser Fragen nach unserer Identität ist politisch, weil unsere individuelle und kollektive Souveränität von ihrer Beschreibung abhängt.
Dr. Björn Vedder